Tiefe
Hier haben wir es zu tun mit einem Wort, das verschiedene Assoziationen ermöglicht. Steckt man tief in Problemen fühlt es sich anders an, als wenn man tief in Gedanken versunken ist oder ein tiefes Gefühl von Liebe verspürt.
Probleme möchte man vorzugsweise noch nicht mal in der leichten Form; tief in Gedanken kann man konzentriert an einer Idee arbeiten oder etwas Neues erforschen; und tiefe Gefühle können beflügeln oder im Gegenzug herunterziehen. Auf jeden Fall passiert etwas, wenn wir von Tiefe sprechen, es hebt in jeder Hinsicht ab von der Oberfläche.
Während wir verbreitet genau Letztere beklagen – Worte, über die nicht nachgedacht wurde; inkonsequente Maßnahmen für Themen, die intensiv und strategisch erarbeitet werden müssten; der schnelle Klick und das flüchte Scrollen; jedes gedankenloses Verhalten – hat die Tiefe eigentlich einen guten Ruf. Man bewundert Menschen, die intelligent und intellektuell, gründlich und durchdacht, fundiert und facettenreich an Themen arbeiten und diese nicht nur breit, sondern eben mit Tiefgang behandeln sowie vermitteln können.
Wenn es darum geht, sich mit diesen in Worte gefassten Gedanken allerdings ernsthaft und ähnlich tiefgründig zu befassen und auseinanderzusetzen, wird es meist dünn. Denn das „eigentlich“ im vorherigen Absatz ist die Crux. Dieser Ansatz, vielleicht auch das gute Vorhaben, verkümmert in der praktischen Umsetzung.
Anstatt also wirklich tief einzusteigen, sich auf das einzulassen, was an Tiefgang offeriert wird, Zusammenhänge erkennen zu wollen, sich anderen gedanklichen Räumen weit zu öffnen und den eigenen Verstand zu bemühen, passiert faktisch der Griff zu dem, was uns so bequem all das erspart.
Wir haben Technologien entwickelt, die unsere Verhaltensweisen und die Abläufe unserer Tage bestimmen. Die uns permanent zur Oberflächlichkeit anhalten, die – wenn diese Techniken denn ein Interesse hätten – wollen, dass wir gar nicht erst hinter den Screen, die Fassade, die Bildwelten blicken, die uns je einen Ausschnitt der Welt vorgaukeln.
Die gesamte Welt nämlich,, das wissen wir durchaus, sieht nämlich nicht rosig, nicht bunt, nicht easy und erst recht nicht einfach aus. Je tiefer wir einsteigen, desto größer wird die Unübersichtlichkeit der Phänomene, der Ereignisse, der Bestandteile unseres Lebenskonstrukts.
Da wir es aber gerne übersichtlich, eindeutig und vorzugsweise einfach haben, folgen wir unserem Wohlfühl-Trieb, in die Tiefe, die bekanntlich dunkel ist, gar nicht erst einen Blick zu werfen. Das würde schließlich bedeuten, man müsste lernen, müsste neue Erfahrungen sammeln, müsste liebgewonnene Einstellungen zurücklassen und sich auf Veränderungen einlassen, von denen man zudem nicht weiß, welche Unsicherheiten damit verbunden sind.
Diese Tiefe macht Angst, die Oberfläche dagegen unterhält uns. Sie gaukelt uns vor, dass alles gut ist wie es ist, und dass andersgelagerte Anzeichen nicht für uns gelten. Dafür haben wir Leute gewählt, die sich kümmern sollen, bezahlen wir andere Leute, von denen wir erwarten, dass sie das wegarbeiten und ziehen uns ansonsten gerne hinter die schönen Fassaden zurück.
Da ist es warm, elektrisch beleuchtet, das Tiefste hier ist der Weinkeller. Nicht weiter bedrohlich.
Doch diese Haltung sollte mal dringend überdacht werden. Denn vielleicht wäre intellektueller Tiefgang, die gründliche Befassung mit der Welt und mit Kontext, der Austausch darüber in menschlicher Gesellschaft das wirksame Mittel, Entwicklungen wie der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ etwas entgegenzusetzen. Vielleicht können wir dem Weltenlauf eine Wende geben, wenn wir es nur schaffen könnten, die Entscheidungen über genau das – unser Leben auf der Erde – mal wieder selbst zu denken und umzusetzen. In aller Tiefe.