Anstand

Kommt der Begriff Anstand ins Spiel, hält man sich gleich schon ein wenig aufrechter. Er vermittelt Autorität, den Anspruch auf Haltung, die allein physisch spürbar wird, und auf die Wahrung von Regeln, die allgemein bekannt zu sein haben. Diese Regeln legen klipp und klar fest, was geht und was nicht, wie man sich also zu verhalten hat, wenn man denn dazugehören, in den Kreis der Anständigen aufgenommen werden möchte.

Klingt ganz schön staubig? Nach Knigge, Rohrstöcken, strengen Erziehungsmaßnahmen, Ermahnungen? Nicht von ungefähr, denn im Wort selber ist es bereits kenntlich gemacht: Hier geht es um Bestand. Der Anstand ist eine Status-Bezeichnung, hier steht etwas, ist festgewurzelt in einer Tradition, in der eben Regeln des Anstands definiert haben, wie man sich einen idealen Menschen vorzustellen hat. Als Musterschüler und selbstredend auch Musterschülerinnen. Die traf’s ganz besonders.

Ein anständiges Mädchen, eine untadelige Frau, die den Anstand wahrt, anständige Kinder, die bloß nichts und niemanden herausfordern. Die sind hübsch artig und stellen sich - auch das ist mit dem Wort gemeint - hinten an. Und tanzen auf keinen Fall aus der Reihe.

Das Gegenstück zu Anstand könnte Angang sein. Hier kommt Bewegung in die Sache. Anstatt nämlich nach Vorgaben anzustehen, sich Anstandsregeln zu unterwerfen, ist beim Angang was los. Auf den ersten Schritt folgt der zweite, ein Experiment setzt etwas Ungeahntes in Gang, man trifft auf andere, die ebenfall ein Vorhaben angehen und damit etwas mit Energie versehen.

Ist das nun Revolution, gar der oft herbeizitierte Untergang des Abendlandes? Vielleicht. Und vielleicht ist das eine gute Nachricht, wenn es endlich mal Morgen wird. Anstatt sich nämlich zur Ruhe zu begeben und ansonsten abwartend im Stand zu verharren, ruft der Morgen zu neuen Taten auf, dazu, etwas zu starten, den Angang zu wagen und das Leben zu gestalten.

Anstand mag schön gemeint sein. Ganze Einrichtungen berufen sich darauf, ehrbar, redlich, zivilisatorisch den Anstand hochzuhalten, während sich darumherum alles aufzulösen, gar zu zerfallen scheint. Den Grund dafür hat man natürlich schnell ausgemacht: Das passiert, wenn der Anstand keine Lobby mehr hat. Die versucht man also eng zu stabilisieren, um einem solchen Desaster entgegenzuwirken. Die Deutungshoheit zu dem, was die Gesellschaft braucht, um zu funktionieren, wird den entsprechenden Clubs zugesprochen. Dabei ist das Leben in all seinen Facetten eben kein Mechanismus, nach dem Menschen funktionieren wollen. Auf jeden Fall sollte es nicht derart festgelegt und bestimmt werden.

Der ständige Ruf nach Anstand bedeutet letztlich die Sicherung eines überkommenen Regelwerks, das vor allem Funktionsträger sichert. Für die Zukunft ist das Ganze völlig ungeeignet.

Was es viel dringender braucht, sind gute Gründe und ebensolche Argumente, was zu bewahren ist, wo neue Ideen benötigt werden, dass ein übergreifendes Miteinander über alle Grenzen hinweg eine Bewegung erzeugen kann, die mitreißt, die dazu beiträgt, dass Menschen sich engagieren, sich einbringen, Ideen finden. Um diese Welt zu einer zu machen, auf der nicht der Anstand regiert - der oft genug perfide Blüten treibt -, sondern auf der eine Verständigung auf humane und humanitäre Angänge möglich ist, die eine lebenswerte Entwicklung bedeuten. Bloß nicht stehenbleiben.

Weiter
Weiter

Tiefe