Nichtstun
In diesem Land steht Nichtstun in einer Reihe mit Tunichtgut. Jemand, der nichts tut, kann folgerichtig nicht gut sein. Und erst recht nichts gut machen. Denn er oder sie macht ja gar nichts.
Irgendwie ganz schön verflixt.
Nichtstun hat, so kann man es wohl zusammenfassen, keinen guten Leumund. Ganz im Gegensatz zum Savoir-vivre oder dem Dolce-far-niente - Italienerinnen und Franzosen haben da eine andere Haltung.
Nun könnte man ja mal fragen, was das eigentlich ist, Nichtstun. Kann ein lebender Mensch überhaupt nichts tun? Ist atmen, mit den Zehen wippen, schniefen, blinzeln nichts? Und wie verhält es sich mit dem Denken? Kann man aufhören zu denken bzw. kann man nicht und nichts denken?
Eigentlich müsste die Erkenntnis lauten: Jeder Mensch, der nicht tot ist, kann nicht nichts tun. Er blickt aus dem Fenster, er denkt über mal mehr, mal weniger schwierige Fragen nach, er bewegt sich, ob er will oder nicht. Das Nichtstun wird nur deswegen stirnrunzelnd beurteilt, weil damit eine Deutung verbunden ist, die mit Faulheit, mit völliger Passivität, Desinteresse und anderen Untugenden einhergeht. Wer nichts tut, erreicht auch nichts, bringt kein Ergebnis zustande, leistet keinen Beitrag zur Produktivität.
Was für eine fatale Vorstellung. In der Folge ist ein permanenter, alles umfassender Aktionismus entstanden, der ein Getriebe in Gang hält, das eigentlich mal dringend überdacht werden müsste. Aber das wäre dann ja nahe dem Nichtstun - denken und sich anderweitig schlau machen ist schließlich keine Aktivität.
Unter dieser Einschätzung leidet das gesamte Land, das sich gerne bezeichnet als eines der „Dichter und Denker“. Doch diese Gesellen der Vergangenheit, die mit lockigem Haar und lässig umgebundenen Halstüchern schmachtende Zeilen aufs Papier brachten, haben im Hier und Heute keinen Platz mehr. In Zeiten von algorithmisch erzeugten Texten in sogenannten sozialen Medien und über durch künstliche Intelligenz erpromptete Prosa haben den Part der Romantiker die genialen Erfinder einer Tech-Industrie übernommen. Hier ist Stillstand nicht vorgesehen, alles muss schnell und immer schneller optimiert werden, hier kommt man nur mit hohem Tempo und entsprechenden Aktivitäten voran.
Im Wartesaal der Bahn, auf dem Beifahrersitz eines Fahrzeugs im Stau kann man da nicht mithalten. Also sitzt man auch dann nicht mit gefalteten Händen, vielleicht in ein Alltagsgespräch vertieft und die Umgebung betrachten dort, wo man gerade hält. Man zückt das smarte Gerät aus der Tasche (wenn es da überhaupt jemals gelandet ist) und scrollt höchst aktiv durch alles, was einem da so geboten wird. Und damit das nicht allzu passiv daherkommt, wird gleichzeitig gelikt, kommentiert und gepostet was das Zeug hält. Bloß nicht so tun, als sei nichts zu tun.
Und so geht uns der Moment verloren, die Zeit, in der wir diese mal anhalten, der Augenblick, in dem wir einfach nur die Gedanken schweifen lassen und - hups - auf verrückte Ideen kommen.
Das ist nicht gewollt. Das könnte ja ein ganzes System zum Wanken bringen, das darauf angelegt ist, dass alle immer was tun.
Und wenn nicht? Was würde passieren, wenn eine ganze Nation, eine ganze Welt mal einen ganzen Tag lang nichts tun würde? Wirklich Nichts!
Vielleicht wäre das mal einen Versuch wert. Und vielleicht wird es ja ganz schön. Und ebenso vielleicht könnte man am Tag darauf etwas ganz Verrücktes tun und dem Nichtstun ein Denkmal bauen. Eine echte Tat.